Leseprobe

«Exit» – Yoko Onos Hoffnungsbäumchen auf der Biennale

In Venedig bleiben wir oft vor einer der schönen alten Türen mit Patina stehen, fasziniert von ihrer sichtbar langen Geschichte. Meist ist an solchen fast gemäldeähnlichen Türen noch ein antiker Knauf dran, der für sich allein betrachtet schon ein kleines Kunstwerk darstellt: ein stolzer Löwenkopf, ein Mohr, ein anmutiger Ägypter oder ein Fabeltier. Diese Türen wecken in mir oft eine große Neugier: Was wäre dahinter wohl zu sehen? Ein schöner Hinterhof mit exotischen Blumen und einer selig schlafenden Katze im Schatten? Oder ein geräumiger Flur mit schweren, dunklen, wurmstichigen Holzbalken an der Decke, so typisch für Venedig? Und dann immer wieder die große Frage: Lebt in dem Haus mit der schönen vierstelligen Hausnummer jemand, der da beheimatet, verwurzelt, angekommen ist?

Im Laufe unseres Lebens gehen wir durch viele Türen. Manche Türen führen uns unverhofft weiter auf dem langen, mosaikartigen Lebensweg. Andere scheinen manchmal vielversprechend und erweisen sich dann als undurchschreitbar; da ist kein nächster Schritt möglich, kein Entwicklungsraum vorhanden, es gibt keinen Weg dahinter – manchmal höchstens noch den letzten Weg …

Lebensbäumchen

Vor Jahren war ich bei einem nahen, jungen Familienmitglied im Krankenhaus dabei, als wir alle vom bald bevorstehenden Abschied wussten. Da war der Gang durch die große Krankenhaustür unendlich schwer und belastend. Das bewusste Abschiednehmen mit gerade mal 28 Jahren erlebte ich in vielen Facetten. Die bedeutendste war diese: Das Geschehene und Erlebte hat mich verändert! Noch intensiver als davor wurde mir die Einzigartigkeit jedes Menschen bewusst, seine Schönheit, aber auch der Schmerz des Unvollendeten in der Lebensblüte. Mir wurde die Nichtigkeit der Besitztümer im ausweglosen Todeskampf vor Augen geführt; die Trauer eines Liebespaares im unausweichlichen Abschied. Und über allem dennoch … der tiefe Frieden. Mitten im Tod.

Vor ein paar Jahren sahen wir auf der Biennale in Venedig eine sehr gelungene Installation von Yoko Ono mit dem Titel «Exit». In einem Wäldchen waren zahlreiche helle Särge nebeneinander aufgestellt, physisch greifbar. Im oberen Teil der Särge war überall ein Ausschnitt hineingearbeitet, aus dem jeweils ein junges, schön gewachsenes Olivenbäumchen herauswuchs … Diese künstlerische Glanzleistung berührte mich sehr tief. In den Gesichtern einiger Besucher meinte ich allerdings eine gewisse Berührungsangst wahrzunehmen.

Für mich waren die einzelnen Särge nahezu unsichtbar, unbedeutend. Sie waren Vergänglichkeitsmaterie, der letzten Auflösung preisgegeben. Mein Blick flog beschwingt zu den saftgrünen Olivenbäumchen, die sich so lebendig-triumphierend dem Sommerhimmel entgegen streckten – als Verheißungssymbol des gänzlich neuen Lebens.